Warum ich fühle, was Du fühlst

Resonanzphänomene des Alltags :
                                                                                                                                                           Meistens ist es schon passiert, bevor wir beginnen können, darüber nachzudenken : Unwillkürlich hat man ein charmantes Lächeln erwidert. Es gibt Dinge, die einen Menschen schneller wehrlos machen können als alle Gewalt. Der Alltag ist voll von spontanen Resonanzphänomenen dieser Art. Warum ist Lachen ansteckend? Warum gähnen wir, wenn andere gähnen? Und seltsam : Weshalb eigentlich öffnen Erwachsene spontan den Mund, wenn sie ein Kleinkind mit dem Löffelchen füttern? Warum nehmen Gesprächspartner unwillkürlich eine ähnliche Sitzhaltung an wie ihr Gegenüber? Worauf also beruht die merkwürdige Tendenz der Spezies Mensch, sich auf den emotionalen oder körperlichen Zustand eines anderen Menschen einzuschwingen?

Die menschliche Psyche und ihr neurobiologisches Instrument, das Gehirn, nehmen, unter Umgehung unseres Bewusstseins, täglich unzählige Hinweise und Reize auf. Resonanz heißt: Diese Wahrnehmungen, egal ob bewusst oder unbewusst, werden nicht nur in uns abgespeichert, sondern können auch Reaktionen, Handlungsbereitschaften sowie seelische und körperliche Veränderungen in Gang setzen. Schuld daran sind die phänomenalen Leistungen der Spiegelneurone.

Stimmungen, Gefiihle und Körperhaltungen: Vorsicht, Ansteckungsgefahr! 

Intuitive Ahnungen und Vorhersagen

Mimik, Blicke, Gesten und Verhaltensweisen, die wir bei anderen wahrnehmen, haben eine weitere Wirkung, die mindestens ebenso bedeutsam ist wie die emotionale Resonanz: Sie fuhren in uns zu einem inneren Wissen über das, was im weiteren Verlauf zu erwarten ist. Ohne intuitive Gewissheiten darüber, was eine gegebene Situation unmittelbar nach sich ziehen wird, wäre das Zusammenleben von Menschen kaum denkbar. Wir sind im Alltag darauf angewiesen, dass beobachtetes Verhalten uns ein sofort verfügbares, intuitives Wissen über den weiteren Ablaufeines Geschehens vermittelt. Intuitiv zu spüren, was zu erwarten ist, kann vor allem dann, wenn es auf eine Gefahrenlage hinausläuft, überlebenswichtig sein.

Die Entdeckung der Spiegelnervenzellen

Auch beim Menschen lässt sich das Spiegelungsphänomen nachweisen. Dabei helfen Methoden, mit denen man, ohne in den Körper der untersuchten Person einzudringen, Schnittbilder des Gehirns erzeugen kann. Diese so genannten bildgebenden Verfahren machen es möglich, zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einer bestimmten Situation aktive Nervenzellnetze darzustellen. Die für diesen Zweck derzeit gebräuchlichste Methode ist die funk-tionelle Kernspintomographie (f-NMR abgekürzt).6 Die Testperson wird in eine Untersuchungsröhre gelegt. Da in dieser ein kleiner Bildschirm sowie kleine manuelle Bedienungselemente (zum Beispiel ein Joystick) installiert werden können und die untersuchte Person außerdem über Mikrofon und Ohrstöpsel in akustischem Kontakt mit der Außenwelt steht, kann man sie nun verschiedenen experimentellen Prozeduren unterziehen. Gehirnareale, die dabei in Aktion treten müssen, kann der Kernspintomograph in einem mehrfarbigen Bild des untersuchten Gehirns sichtbar machen. Mit Methoden wie der funktionellen Kernspintomographie lassen sich auch Spiegelphänomene nachweisen. Menschen, welche die Handlungen anderer beobachten, aktivieren Netzwerke ihrer eigenen Handlungsneurone. Bei ihnen tritt die Resonanz genau in jenen Zellnetzen auf, die auch dann feuern würden, wenn die jeweilige Versuchsperson die entsprechende Handlung selbst ausführte.

Spiegelneurone und die Intuition

Ein kurzer Eindruck, manchmal nur eine Momentaufnahme, genügt, um uns eine intuitive Ahnung zu vermitteln, was gerade vor sich geht und worauf wir uns einzustellen haben. Der Grund: Die Beobachtung von Teilen einer Handlungssequenz eines anderen reicht aus, um im Beobachter dazu passende Spiegelneurone zu aktivieren, die ihrerseits aber die gesamte Handlungssequenz »wissen«. Was Umiltä bei ihren so verdienst-vollen Affen fand, zeigt sich auch beim Menschen. Und: Es gilt nicht nur für motorische Handlungsfolgen, sondern ebenso, wie wir später noch sehen werden, für Abläufe des Empfindens und Fühlens. Spiegelneurone machen also, indem sie in Resonanz treten und mitschwingen, beobachtete Handlungen für unser eigenes Erleben nicht nur spontan verständlich. Spiegelneurone können beobachtete Teile einer Szene zu einer wahrscheinlich zu erwartenden Gesamtsequenz ergänzen. Die Programme, die Handlungsneurone gespeichert haben, sind nicht frei erfunden, sondern typische Sequenzen, die auf der Gesamtheit aller bisher vom jeweiligen Individuum gemachten Erfahrungen basieren. Da die allermeisten dieser Sequenzen der Erfahrung aller Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft entsprechen, bilden die Handlungsneurone einen gemeinsamen intersubjektiven Handlungs- und Bedeutungsraum. Intuitive Ahnungen können in einem Menschen entstehen, auch ohne das Bewusstsein zu erreichen. Man hat zum Beispiel nur ein ungutes Gefühl, weiß aber nicht, warum.. Dies liegt unter anderem daran, dass es subliminale, also nicht bewusst registrierte Wahrnehmungen sein können, die in uns Spiegelneurone aktivieren. Die Fähigkeit, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was andere tun, ist bei Menschen allerdings unterschiedlich ausgeprägt.

Intuition und Verstand

Die Fähigkeit zum intuitiven Verstehen, dieses Geschenk unserer Spiegelnervenzellen, schützt uns keineswegs vor Irrtümern. Wahrnehmungen von Szenen können über das neurobiologische Spiegelsystem zur Aktivierung von Programmen führen, die für das Gehirn zwar zunächst wie eine passende Fortsetzung des beobachteten Geschehens aussehen, sich dann aber als Irrtum erweisen. Dies liegt daran, dass viele Alltagsszenen mehrdeutig sind und zu verschiedenen Fortsetzungsgeschichten passen könnten. Bei der unterschiedlichen Interpretation spielen individuelle Vorerfahrungen eine nicht unwesentliche Rolle. Wer zum Beispiel häufig die Erfahrung gemacht hat, dass freundlich erscheinende Menschen plötzlich eine unerwartete unangenehme Seite zeigen, der'wird mit seinen Spiegelneuronen anders auf einen freundlichen Menschen reagieren als andere. Wer oft erleben musste, dass viel versprechende Ausgangssituationen am Ende zu einer Enttäuschung geführt haben, bei dem wird sich dies als typische Sequenz auch in seinen neurobiologischen Programmen wiederfinden.

Fazit: Intuition und rationale Analyse können sich nicht gegenseitig ersetzen. Beide spielen eine wichtige Rolle und sollten gemeinsam zum Einsatz kommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Situation richtig bewertet haben, ist am größten, wenn Intuition und kritische Reflexion zu ähnlichen Ergebnissen kommen und einander ergänzen. Die Grenzen sowohl des intuitiven als auch des analytischen Urteils machen die überragende Rolle der Sprache bzw. des klärenden Gesprächs deutlich. Intuition ist ohne Sprache möglich, aber nur die Sprache versetzt uns in die Lage, uns explizit über intuitive Wahrnehmungen zu verständigen.

Spiegelneurone bei Stress und Angst

Untersuchungen zeigen, dass Angst, Anspannung und Stress die Signalrate der Spiegelneurone massiv reduzieren. Sobald Druck und Angst erzeugt werden, klinkt sich alles, was vom System der Spiegelneurone abhängt, aus: das Vermögen, sich einzufühlen, andere zu verstehen und Feinheiten wahrzunehmen. Bereits hier sei angemerkt, dass dort, wo Angst und Druck herrschen, eine weitere Fähigkeit abnimmt, die von der Arbeit der Spiegelsysteme lebt: die Fähigkeit zu lernen.14 Stress und Angst sind daher in allen Bereichen, wo Lernvorgänge eine Rolle spielen, kontraproduktiv.                                                                                           Dass Spiegelneurone bei Angst und Stress in ein Leistungstief fallen, hat allerdings noch eine weitere Folge: Intuition ist in solchen Situationen kein guter Ratgeber. Die Hemmung des Spiegelsystems durch Stress dürfte eine Erklärung dafür sein, dass intuitive Reaktionen bei starker Belastung und Panik ausgesprochen irrational ausfallen und die Lage oft noch schlimmer machen, als sie es ohnehin schon ist. Auch hier erweist sich, dass es uns die Intuition nicht ersparen sollte, von unserem Verstand nützlichen Gebrauch zu machen.

Beeinflussen Spiegelneurone unser Verhalten?

Handlungssteuemde Nervenzellen unserer prämotorischen Hirnrinde reagieren mit einer Resonanz, wenn wir die Handlung eines anderen beobachten. Daher liegt die Frage nahe, ob Spiegelneurone Einfluss auf unser Verhalten haben. Wie bereits erwähnt, zeigen Experimente, dass jede ausgeführte willentliche Tat mit einer Aktivierung der Handlungsneurone beginnt, die den Plan bzw. das Konzept für die Ausfuhrung der jeweils beabsichtigten Handlung im Programm haben.                                                                                                Aktion um ein Geschehen, das dem Beobachter bisher noch nie begegnet ist, zum Beispiel um eine Tat von bisher nicht erlebter Brutalität, dann wird sie als weiteres - potenzielles - Handlungsprogramm in den Bestand der handlungssteuernden Nervenzellen aufgenommen.16 Ihrer Art nach völlig ungewohnte, neu ins Leben getretene, dem betroffenen Menschen bisher nicht bekannte Handlungssequenzen werden sogar besonders intensiv abgespeichert: Eine Handlung, die wir zum ersten Mal wahrnehmen oder miterleben, sei es etwas Liebevolles oder etwas Fürchterliches, hin-terlässt in uns besonders intensive Vorstellungen von ihr.

Menschen fiihlen, während sie handeln

Handlungen sind kein Selbstzweck, sondern stehen, entweder direkt oder über Zwischenschritte, immer im Zusammenhang mit Bedürfhissen und Lebensbedingungen der Akteure. Akteure einer Handlung müssen nicht nur abschätzen, ob ihnen das Ergebnis ihrer Handlung dient, sondern auch, ob sie eine Aktion ausfuhren können, ohne während der Ausführung Schaden zu nehmen. Dies bedeutet, und das wird häufig vergessen, dass eine Handlung einerseits aus dem operativen Vorgang und der Ausrichtung auf ein angestrebtes Ziel, andererseits aber auch daraus besteht, was sie im Moment des Vollzugs für den biologischen Akteur bedeutet. 

Spiegelneurone des Körperempfindens: Ich spüre, was du spürst

Die Aufgaben von Nervenzellen der sensiblen Hirnrinde, die Vorstellungen von Empfindungen gespeichert haben; beschränken sich nicht darauf uns im Fall einer selbst ausgeführten Handlung Auskunft über die dabei zu erwartenden körperlichen Empfindungen zu geben. Eine Serie von Studien mit modernen bildgebenden Untersuchungsverfahren zeigt: Nervenzellen für die Vorstellung von Empfindungen feuern nicht nur, wenn wir selbst eine Handlung planen oder ausfuhren. Sie verhalten sich wie Spiegelneurone und treten auch dann in Aktion, wenn wir nur beobachten, wie eine andere Person handelt oder auch nur etwas empfindet. Nervenzellen der inferioren parietalen Hirnrinde, die für die Vorstellung von Empfindungen zuständig sind, können uns also auch Auskunft darüber geben, wie sich eine von uns beobachtete Person fühlt.

Spiegelneurone für Schmerz, Mitgefühl und. Empathie

Die emotionale Seite des Schmerzes und das, was uns beim Schmerz tief unter die Haut geht, wird durch Nervenzellen registriert, die sich in einem Hirnareal befinden, in dem sich unser emotionaler Grundzustand und unser Lebensgefühl formen. Dieses Areal trägt die Bezeichnung Gyrus einguli27. In einer genialen Untersuchung gelang es William Hutchison, einzelne Nervenzellen des Gyrus cinguli zu identifizieren, die feuerten und nur dann feuerten, wenn der Testperson; an einer bestimmten Fingerkuppe Schmerz zugefügt wurde; indem man sie dort mit einer Lanzette piekste.28 Nachdem man die Zellen, die spezifisch auf diesen Schmerz reagierten, sicher identifiziert hatte, bat man die Testperson zuzuschauen, wie sich der Untersuchungsleiter selbst in eine Fingerkuppe stach. Beim Patienten feuerten dieselben Nervenzellen, die auch beim Erleben des eigenen Schmerzes gefeuert hatten. Da der Gyrus cinguli das zentrale Emotionszentrum des Gehirns darstellt, sind die Spiegelneurone, die hier entdeckt worden waren, nicht mehr und nicht weniger als ein Nervenzellsystem für Mitgefühl und Empathie.

Das Geheimnis der sympathischen Ausstrahlung

Die Fähigkeit, Empathie und Mitgefühl so auszudrücken, dass sie von anderen als angemessen empfunden wird, scheint eines der Geheimnisse einer sympathischen Ausstrahlung zu sein. In sich selbst Spiegelungen anderer Menschen zuzulassen, sich durch ihre Ansichten und Empfindungen berühren zu lassen, scheint mit Sympathie belohnt zu werden. Studien zeigen, dass wir vor allem für solche Personen Sympathie empfinden, die ihrerseits adäquat spiegeln können.31 Dabei bewerten wir unter anderem, ob wir Mimik und Körpersprache von Menschen als kongruent, also passend zu einer gegebenen äußeren Situation erleben. Personen; die eine traurige Filmszene mit fröhlicher Miene nacherzählen, erhalten von außen stehenden Beobachtern negative Sympathiewerte, während Menschen, die Anteil nehmen können und deren körpersprachlicher Ausdruck mit der jeweiligen Situation, in der sie sich befinden, übereinstimmt, Sympathiepunkte sammeln.

Die Gabe, sich vorzustellen, was andere denken (die »Theory of Mind «)

An vieles, von dem wir permanent Gebrauch machen, haben wir uns so gewöhnt, dass wir darüber nicht mehr nachdenken. Ebenso verhält es sich mit der Fähigkeit, im Kontakt mit einem anderen Menschen innerhalb kürzester Zeit einen Eindruck zu gewinnen, was ihn bewegt, was er will und worauf es ihm im Moment ankommt. Schnell zu erfassen, was in einem anderen Menschen vorgeht, wird, wie schon erwähnt, in der Fachsprache als das Vermögen bezeichnet, sich eine »Theory ofMind« zu bilden.

Ob es sich um einen »richtigen« Eindruck handelt, ist - dies mag überraschend klingen - nicht so wichtig, wie wir meinen. Viel wichtiger für das Gelingen des zwischenmenschlichen Kontakts ist, dass es überhaupt zu einem intuitiven Eindruck vom Gegenüber kommt, sodass eine spontane Kommunikation beginnen kann. Eine Schwierigkeit ergibt sich erst dann, wenn uns die Fähigkeit verlässt, eine »Theory ofMind« über unser Gegenüber zu bilden.

Warum wir beobachten, was andere beobachten: Die Spiegelneurone des optischen Interpretationssystems

Das optische Aufbereitungs- und Interpretationssystem (STS) beschränkt sich nicht darauf, an motorische, sensible oder Emotionen verarbeitende Spiegelzellen Informationen zu liefern, auf Grund deren diese dann in Resonanz treten können; sondern organisiert darüber hinaus eine Spiegelreaktion ganz eigener Art. Es achtet nicht nur auf die Blickbewegungen der Menschen um uns herum, sondern sorgt dafür, dass wir, in einer wiederum spontanen und intuitiven Reaktion, unsere eigenen Blickbewegungen danach ausrichten. Eine der häufigsten Reaktionen besteht darin, dass wir selbst in die Richtung sehen, in die ein anderer gerade blickt. Wenn jemand seinen Blick plötzlich, überrascht oder erschreckt auf etwas richtet, schauen wir impulsiv auch selbst dorthin, und zwar simultan und vor jeglichem Nachdenken. Das spontane Einschwenken auf einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, im Englischen als »Joint attention« bezeichnet, ist ein ständiges, fast unwiderstehliches Alltagsphänomen. Es gehört darüber hinaus zu den wichtigsten Voraussetzungen für den Aufbau einer emotionalen Bindung.

Wie sich das Kind in die Welt spiegelt und das Problem des Autismus

Spiegelzellen zu haben, die tatsächlich spiegeln, gehört zu den wichtigsten Utensilien im Gepäck für die Reise durch das Leben. Ohne Spiegelneurone kein Kontakt, keine Spontaneität und kein emotionales Verstehen. Die genetische Grundausstattung stellt dem Säugling ein Startset von Spiegelneuronen zur Verfügung, die ihm die Fähigkeit verleihen, bereits wenige Tage nach der Geburt mit seinen wichtigsten Bezugspersonen erste Spiegelungsaktionen vorzunehmen. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, ob ihm die Chance gegeben wird, solche Aktionen zu realisieren, denn eine Grundregel unseres Gehirns lautet: »Use it or lose it.« Nervenzellsysteme, die nicht benutzt werden, gehen verloren. Spiegelaktionen entwickeln sich nicht von allein, sie brauchen immer einen Partner. »Use it or lose it«: Die Spiegelneurone des Säuglings müssen eingespielt werden.

Die Basis emotionaler Intelligenz: Das Gefühl von intuitivem Verstanden-Sein

Auf der Basis dessen, was Spiegelneurone bereitstellen, hat der Säugling die Chance, mit seiner Umgebung emotional in Kontakt zu treten, Signale auszutauschen und ein erstes Urgefühl des Sich-Verstehens zu entwickeln. Frühe Spiegelungen sind nicht nur möglich, sie entsprechen beim Neugeborenen einem emotionalen und neurobiologischen Grundbedürfnis. Dies zeigt sich nicht nur an den verzückt-glücklichen Reaktionen - und übrigens auch an markanten Signalen in der Hirnstromkurve (EEG) -, die sich beim Säugling durch zärtliche Imitationen hervorrufen lassen. Geglückte Spiegelungen und das auf dieser Basis entstehende Gefühl der Bindung fuhren auch zu einem Ausstoß körpereigener Öpioide. Dies erklärt nicht nur, warum zwischenmenschliche Zuwendung - wie sich auch in Studien zeigte - Schmerzen erträglicher macht, sondern auch, warum wir neurobiologisch auf Bindung geeicht sind.

Die Bedeutung des kindlichen Spiels für die Entwicklung der Spiegelsysteme

Mit etwa sechs Monaten beginnen Kleinkinder den Ablauf und das Ziel von Bewegungssequenzen zu speichern. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass das Kind in diesem Alter erstmals das Erscheinen eines Balls, der hinter die eine Seite einer Sichtblende gerollt wurde, an der anderen Seite erwartet. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass es einige Zeit später auch Handlungssequenzen einschließlich ihres Endzustands speichern kann. Um den neunten Monat herum ist das Kind fähig, Objekte oder Bezugspersonen in dem Wissen zu repräsentieren, dass sie auch dann weiter existieren, wenn sie nicht zu sehen sind. Diese so genannte Objektkonstanz zeigt sich nicht nur in der Beziehung des Kindes zur Bezugsperson, sondern auch daran, dass es dazu übergeht, zum Beispiel einen Ball, der in ein Tuch gewickelt wurde, wieder auszupacken, weil es - anders als zuvor -jetzt weiß, dass der Ball, obwohl nicht sichtbar, weiterhin vorhanden ist.

Spiegelneurone und die Herkunft der Sprache

Nicht alle tun es so wild wie einst der französische Komiker Louis de Funes, aber alle tun es: Wir reden mit den Händen. Doch was hat es damit auf sich, dass Menschen - mal mehr, mal weniger heftig - beim Sprechen mit den Händen gestikulieren? Und warum tun es sogar Blinde, übrigens selbst dann, wenn sie wissen, dass ihr Gegenüber ebenfalls blind ist? Die Entdeckung der Spiegelnervenzellen führte zur Klärung einiger bemerkenswerter, teilweise erstaunlicher Zusammenhänge. Eine dieser Einsichten betrifft den engen und tief reichenden Zusammenhang zwischen Handlungen und Sprache. Im Gehirn befinden sich die Nervenzellnetze, die für die Sprachproduktion zuständig sind, an gleicher Stelle wie die Spiegelneurone des be-wegungssteuernden Systems. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie teilweise identisch sind. Die Sprache hat sich im Verlauf der Entwicklung des Menschen offensichtlich aus den motorischen Systemen des Gehirns entwickelt.

Am Anfang Laute und Bewegung, dann Sprache und Handlung: Die Entwicklung der Sprache beim Kind

Ob die Sprache aus Handlungsvorstellungen entstanden, also letztlich als ein Produkt unserer Motorik anzusehen ist, lässt sich von einem weiteren interessanten Ansatzpunkt aus analysieren. Blicken wir einmal auf die Beziehungen zwischen den Vorläufern von Handlungen und den Vorläufern der Sprache, also zwischen ungezielter Motorik und nichtsprachlicher Lautbildung.

Intuitives Verstehen benötigt keine Sprache, aber: Keine Sprache oltne Verstehen

Dank der Spiegelzellsysteme ist es möglich, Handlungen auch ohne Sprache intuitiv zu verstehen. Doch umgekehrt ist die Sprache, Ausdruck von verstandenem Handeln, ohne entwickelte Handlungsvorstellungen nicht möglich. Dies wird an Personen mit einer Apraxie deutlich. Sie sind trotz eines intakten Bewegungsapparates nicht - oder nicht mehr - in der Lage, Handlungsfolgen zu planen und auszufuhren. Solche Patienten leiden, obwohl ihr Sprechorgan funktionsfähig ist, immer auch an einer Aphasie, das heißt einer Beeinträchtigung ihres sprachlichen Ausdrucksvermögens. Umgekehrt kann aber das Handlungsverständnis, die so genannte Praxie, trotz einer Sprachstörung bzw. Aphasie voll erhalten sein.

Dein Bild in mir, mein Bild in dir: Spiegelung und Identität

Tritt ein Mensch in unseren Wahrnehmungshorizont, dann aktiviert er, ohne es zu beabsichtigen und unabhängig davon, ob wir es wollen oder nicht, in uns eine neurobiologische Resonanz. Verschiedene Aspekte seines Verhaltens wie Blickkontakt, Stimme, mimischer Ausdruck, Körperbewegungen und konkrete Handlungen rufen in uns, ein Spektrum von Spiegelreaktionen hervor. Wir rekapitulieren: In Resonanz begeben sich Nervenzellnetze, die auch dann aktiv werden würden, wenn wir selbst täten, was wir gerade bei einem anderen Menschen beobachten. Betroffen sind Netzwerke des prämotorischen Systems, die der Handlungsplanung dienen, und Netzwerke des Körperempfindens, mit denen wir spüren, wie sich eine Handlung für den wahrgenommenen Akteur anfühlt bzw. anfühlen würde. Letztere stehen in Verbindung mit den Emotionszentren des Gehirns1: Auch hier befinden sich Spiegelnervenzellen, die in uns - nach Art eines Simulators - das aktivieren, was zunächst nur die Emotionen und Gefühle des anderen waren. Durch Spiegelnervenzellen ausgelöste Resonanz bedeutet: Indem wir die Handlungsabsichten, Empfindungen und Gefühle eines Menschen selbst in uns spüren, gewinnen wir ein spontanes, intuitives Verstehen dessen, was den anderen bewegt.

Warum wir nicht nur das tun, was wir bei anderen sehen

Handlungen und Verhaltensweisen zu imitieren, die wir bei anderen beobachten, ist ein durch Spiegelneurone vermittelter menschlicher Grundantrieb. Er ist bei Säuglingen und Kleinkindern noch völlig ungehemmt: Was sie bei ihren Bezugspersonen sehen, versuchen sie intuitiv und unwillkürlichnachzuahmen. Das Kind benutzt das Imitationsverhalten nicht nur als eine erste Möglichkeit zur Kommunikation, sondern macht mit dessen Hilfe auch seine ersten Lernerfahrungen. Nach etwa eineinhalb Jahren beginnen auf Grund der dann erreichten neurobiologischen Reife Hemmungsmechanismen einzusetzen, welche die Imitationsneigung in den darauf folgenden Jahren immer stärker kontrollieren. Bei der Fähigkeit, intuitive Spiegelungs- und Nachahmüngsphänomene unter Kontrolle zu halten, spielen bestimmte Partien des Frontalhirns eine entscheidende Rolle. Dies zeigt sich daran, dass Personen, bei denen diese Regionen beschädigt oder in ihrer Funktion behindert sind, häufig zu primitivem Imitationsverhalten zurückkehren. Das gleiche Syndrom tritt manchmal auch bei Menschen auf, die an einer Psychose erkrankt sind.

Spiegelsysteme mit Leidenschaft: Flirt und Liebe

Alles, was Freude macht, für bedenklich zu halten -einer solchen Haltung begegnet man vor allem bei denen, die sich selbst nicht freuen können. In der Liebe ist es ebenso. Bei denjenigen, die sie nicht kennen, lösen Menschen im Liebesglück besorgte Mienen aus. Sollte man hier nicht einen Arzt oder Psychologen zu Rate ziehen!? Keine Frage, bei der Liebe haben wir es, was die Tätigkeit der Spiegelneurone betrifft, mit einem »schweren Fall« zu tun. Die Diagnose ist also ernst. Die Liebe ist eine besonders heftige, zauberhafte Form von neurobiologischer und psychologischer Resonanz. Wer sich nicht intuitiv auf andere einlassen, deren Empfindungen in sich selbst nicht spontan zum Schwingen bringen, Gefühle nicht spiegeln kann, der hat es in der Liebe schwer. In diesem Kapitel will ich keinesfalls den Versuch unternehmen, die Liebe einer neurobiologischen Analyse zu unterziehen; vielmehr soll es zeigen, dass das, was Spiegelneurone möglich machen, zu den tiefsten und beglückendsten menschlichen Erfahrungen gehört.

Veränderung in der Liebe und Störungen der Balance

Auch eine so wunderbare Droge wie die Liebe hat ihre »Risiken und Nebenwirkungen«. Starke Spiegeleffekte, wie sie in der Liebe auftreten, haben nicht nur zur Folge, dass wir uns auf die Vorstellungen, Absichten oder Gefühle des geliebten Menschen einstimmen. Wir werden durch den Liebespartner ein Stück weit - auch neurobiologisch - tatsächlich verändert.6 Solange die Liebe lebendig ist, empfinden beide Partner dieses Sich-auf-den-anderen-Einlassen meistens als Glück. Doch können sich auch Schieflagen ergeben. Der Wunsch, dem anderen in seinen Absichten, Ansichten und Empfindungen nahe zu sein und sich entsprechend einzustimmen, kann so massiv werden, dass die eigene Identität in Frage gestellt ist - jedenfalls das, was bisher als die Identität der betroffenen Person galt.

Wenn die Liebe zu Ende geht

Damit Liebe sich entwickeln und vertiefen kann, bedarf es einiger Voraussetzungen, die man nicht in einem Kurs erlernen kann. Eine länger dauernde Entwicklung der Liebe zuzulassen heißt, Spannungen aushalten und Enttäuschungen hinnehmen zu können, damit neue beglückende Erfahrungen möglich werden. Doch die Leidensfähigkeit sollte ihre Grenzen haben. Es gibt Paare, die das Glück, sich in wechselseitiger Spiegelung zu erleben, immer wieder neu erschaffen und die Liebe manchmal ein Leben lang lebendig erhalten. Doch auch das Gegenteil kommt vor: Paare, die sich, nachdem die Begeisterung nachgelassen hat, über Jahre langweilen oder sich gar das Leben zur Qual machen. Wenn die Freude verflogen ist, sich auf den Partner spiegelnd einzuschwingen, ist es um die Liebe nicht mehr gut bestellt. Interessant ist, was sich in Beziehungen, die an diesem Punkt angekommen sind, beobachten lässt.

Beziehungsalltag und Lebensgestaltung: Was sich von den Spiegelzellen lernen lässt

Welche Aspekte des Spiegelneuronensystems sind für den Alltag eines einzelnen Menschen bedeutsam? Wenn wir die emotionalen Aspekte zwischenmenschlicher Kommunikation, wenn wir intuitives gegenseitiges Verstehen, spontane Anteilnahme und persönliche Resonanz für wichtige Elemente unseres persönlichen Lebens halten, dann sind die Spiegelneurone für unseren Alltag keineswegs irrelevant. Was bedeutet die Möglichkeit des biologischen Systems Mensch, auf einen anderen Menschen mit einer Reihe von neurobiologischen Resonanzen zu reagieren? Es bedeutet, dass wir über eine geniale direkte Möglichkeit verfügen, unmittelbaren Aufschluss über den inneren Zustand unserer Mitmenschen zu erhalten, über ihre Absichten, Empfindungen und Gefühle. Die durch andere in uns erzeugten Resonanzen werden in neurobiologischen Systemen wirksam, die wir zugleich zur Wahrnehmung und Regulierung unserer eigenen inneren Zustände einsetzen. Mit anderen Worten: Wir erleben, was andere fühlen, in Form einer spontanen inneren Simulation.

Die Wahrnehmung des Schönen oder: Das Gehirn ist kein Müllschlucker

Was hat das Schöne mit den Spiegelneuronen zu tun? Spiegelneurone sind das neurobiologische Verbindungsstück zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir selbst fühlen. Bilder der Zerstörung und Gewalt werden als neuronale Muster gespeichert, die dann in das Repertoire unserer Vorstellungen eingehen. Was vorher unvorstellbar war, wird, nachdem es gesehen und miterlebt wurde, in den Pool der eigenen Bilder aufgenommen. Was dies für Menschen in Krisen- und Gewaltzonen bedeutet, die sich vor Bildern der Grausamkeit nicht schützen können, lässt sich nur erahnen. So als hätten wir des realen Grauens nicht ge-nug> ergänzen wir in westlichen Ländern für unsere Jugendlichen das Angebot noch mit einer reichhaltigen Palette sadistischer Filme und immer perfekter gestalteter »Spiele«, die es möglich machen, am eigenen Computer Menschen zu jagen, zu quälen und zu töten. Aktuelle Studien belegen glasklar einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Konsum dieser Angebote und der unter Jugendlichen auftretenden Gewalt.

Auch Gene reagieren auf Signale

Verhalten findet nicht im körperlosen Raum statt, sondern ist immer zugleich auch Biologie. »Änderung des Verhaltens« bedeutet daher, dass sich Lebewesen zugleich auch biologisch verändern. Wie passt dies nun aber zu der Lehrmeinung, dass die Gene unseren Körper und unser Verhalten auf unveränderliche Weise determinieren? Verhaltensänderungen gehen immer mit biologischen Veränderungen einher.1 Da sämtliche biologischen Prozesse auf der Aktivität von Genen basieren, stellt sich die Frage, was sich genetisch abspielt, wenn sich ein Lebewesen im Rahmen eines Verhaltenswandels auch biologisch verändert. Macht es sich für einen Moment von der genetischen Steuerung frei? Dies ist nicht der Fall. Tatsächlich könnte ein lebendes System nicht auf Signale reagieren, wenn es die Gene nicht auch könnten. Entgegen einer zum Teil immer noch verbreiteten Ansicht fahren Gene nicht auf Autopilot, sondern werden in ihrer Aktivität durch Signale reguliert. Diese können ihren Ursprung in der Zelle selbst, außerhalb der Zelle oder in der Umwelt haben.

Das Terrain des freien Willens

Wenn wir das Tun anderer Menschen beobachten oder miterleben, werden in uns zu diesem Tun gehörende Vorstellungen und Gedanken angeregt. Beim Neugeborenen sowie beim Kleinkind führt die durch Beobachtung ausgelöste neurobiologische Resonanz in einem hohen Grad auch zu den entsprechenden Verhaltensweisen: Säugling und Kleinkind zeigen eine starke Tendenz, das, was sie sehen, auch selbst zu machen. Sobald hemmende Bereiche des vorderen Frontalhirns ausgereift sind, erwirbt der Mensch, wie bereits ausgeführt, die Fähigkeit, die mit Spiegelungsvorgängen einhergehenden Imitationsimpulse zu kontrollieren: Was beim Kind gleich zur imitierenden Tat werden musste, kann beim reifen Erwachsenen nur Gedanke bleiben. Der vordere Teil des Frontalhirns wird als der Ort der Selbststeuerung angesehen. Nun wird klar, wie das Terrain aussieht, das der »freie Wille« zur Verfügung hat: Er kann sich die eigene Person und die Welt nicht neu erfinden, sondern ist zunächst einmal an die Gesamtheit der im eigenen Gehirn gespeicherten Programme für Handeln, körperliches Empfinden und emotionales Fühlen gebunden. Hier tut sich ihm - bei einem durchschnittlich entwickelten Menschen - allerdings ein beachtliches Terrain auf. Wahlmöglichkeiten bestehen nicht nur darin, in einer bestimmten gegebenen Situation ein Handlungs- oder Empfindungsprogramm zuzulassen oder abzublocken. Vielmehr bringt es die Lebenserfahrung mit sich, dass für jede Situation meist mehrere Reaktionsprogramme möglich sind, aus denen ausgewählt werden kann und muss.

Spiegelung: eine Art Gravitationsgesetz lebender Systeme

Neurobiologische Resonanzphänomene, die es möglich machen, dass ein Individuum durch die Wahrnehmung eines anderen Individuums dessen inneren Zustand unwillkürlich simulieren kann, sind von überragender biologischer Bedeutung. Sie sind die Grundlage dafür, dass sich die Individuen einer Art untereinander verstehen, sich als einander zugehörig erkennen und ihr Verhalten auf vielfältige Weise intuitiv aufeinander abstimmen können. Darüber hinaus dient das System der Spiegelneurone, das für diese Phänomene die neurobiologische »Hardware« stellt, mit seinen Programmen als bedeutsamer Speicher von Wissensbeständen. Diese können nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch von Generation zu Generation weitergegeben werden. Angesichts der vielfältigen Spiegelungsphänomene, die von der DNA bis zum Menschen reichen, könnte man daran denken, Spiegelung und Resonanz als das Gravitationsgesetz lebender Systeme zu bezeichnen. »Survival of the fittest« ist möglicherweise nicht das einzige Leitprinzip der Evolution, sondern wäre zu ergänzen durch ein weiteres, eigenständiges biologisches Kernmotiv: die Suche nach Passung, Spiegelung und Abstimmung zwischen biologischen Systemen. Aus Letzterem haben sich die differenzierten, intuitiven kommunikativen Phänomene entwickelt, die wir beim Menschen beobachten können. Zumindest für den Menschen gilt: Nicht dass wir um jeden Preis überleben, sondern dass wir andere finden, die unsere Gefühle und Sehnsüchte binden und spiegelnd erwidern können, ist das Geheimnis des Lebens.

( aus dem Buch "Warum ich fühle was Du fühlst" von Joachim Bauer )

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